Unser Leben wird immer pausenloser. Atemlos hecheln wir von Termin zu Termin. Wie oft sagen wir, dass wir keine Zeit haben: keine Zeit für unsere Familie, Freunde und schon gar nicht für uns selber. Auch für kleine Pausen scheinen wir keine Zeit mehr zu finden. Unterbrüche, die uns aus unserem Takt werfen, empfinden wir als Störung und reagieren entnervt. Es ist, als hätten wir die Möglichkeit vergessen, die Stopptaste zu drücken.
Häufig sehnen wir uns danach, im Strom des Alltags innezuhalten und uns Zeit zum Nachdenken oder sogar zur inneren Kontemplation zu nehmen. Doch nur wenige nehmen sich diese Freiheit heraus. Heutzutage muss jede und jeder für sich weitgehend individuell entscheiden, wann sie oder er inne hält und ausspannt. Kollektive Ruhezeiten werden an den Rand gedrängt und verschwinden zunehmend. Sonntage sind beispielsweise nicht mehr zwingend Ruhe- und Erholungstage.
Seit der Industrialisierung ordnen wir uns dem Takt der Maschinen unter. Die Arbeiterbewegung forderte Gesetze für maximale Arbeitszeiten, Nachtarbeitsverbot, Freitage und Ferien. Heute erlauben die neuen Kommunikationsmittel, die neuen Medien, kaum mehr ungestörte Ferien und Wochenenden. Viele glauben, 24 Stunden am Tag erreichbar sein zu müssen. Wir leben in einer Nonstopp-Gesellschaft, die den Lebens- und Arbeitsrhythmus ständig weiter beschleunigt. Doch das Verlangsamen und der Stopp gehören zum Leben, zu unserm Lebensrhythmus, denn unsere Biologie verlangt danach.
Das Modell der Produktion ist der Takt, nicht der Rhythmus. Und der Takt kennt keine Pausen.
Prof. Dr. Karlheinz Geissler, Zeitforscher
Über laufende Neuerungen und Veränderungen kreieren wir zwar immer wieder neue Anfänge, doch unsere Gesellschaft kennt - vielleicht mit Ausnahme des Todes - kaum mehr Enden. Kaum noch jemand erfährt in der modernen Arbeitswelt das Gefühl, dass eine Arbeit ganz abgeschlossen ist, man sich zurücklehnen und stolz sein Werk betrachten kann. Denn erst das Innehalten nach getaner Arbeit lässt einem das Gefühl eines Endes erleben. Gleichzeitigkeit von verschiedensten Abläufen (Programmen) ist gefragt. Sie hält uns permanent auf Trab. Unrentable Pausen - Brachzeiten - werden durch die Wirtschaft verdrängt, ganz abgeschafft oder wenn möglich kommerziell nutzbar gemacht. Unser heutiges, wirtschaftlich und kulturell bedingtes Verhältnis zur Zeit lässt kaum mehr Luft und Raum zwischen den Dingen, die wir tun und erfahren. Ein natürlicher Lebensrhythmus hingegen ist ein lebendiges Prinzip, das Platz für Veränderungen und Raum für Eigenzeiten zulässt.
Steigerung des Umsatzes und des Wachstums sind die zentralen Antriebsmotoren der Wirtschaft. Die Rationalisierung, Optimierung und Beschleunigung der betrieblichen Zeitabläufe, die so stark forciert werden, stossen aber an ihre menschlichen (biologischen) Grenzen. Das Tempo des arbeitenden Menschen lässt sich nicht beliebig beschleunigen. Pausen einzulegen ist lebensnotwendig und fördert im Gegenteil die Leistung. Zudem wachsen nicht selten neue Ideen und Impulse gerade aus den Ruhephasen heraus.
Das Arbeiten an der psychischen und physischen Belastungsgrenze halten viele kaum mehr aus. Viele fühlen sich innerlich ausgelaugt, sind permanent müde und kommen sich als Getriebene vor. Neben somatischen Erkrankungen wie Herz-Kreislaufstörungen ist auch das Burnout-Syndrom eine Folge davon; eine Zeiterscheinung, deren zunehmendes Auftreten bei aller diagnostischen Unschärfe ein Ausdruck unserer kollektiven Befindlichkeit ist. Eine grosse wissenschaftliche Untersuchung hat aufgezeigt, dass mit der Pausenlosigkeit der Gesellschaft depressive Erkrankungen deutlich zunehmen. Doch noch schneller und noch optimierter soll der Mensch arbeiten. Bereits klagen gegen 30 Prozent der Menschen in der Schweiz über Schlafprobleme.
Im Kampf gegen die Zeit und gegen die Vergänglichkeit des Lebens gibt es nichts zu gewinnen,
sondern nur zu verlieren. Zeit kann weder erworben noch gewonnen,
weder besessen noch vermehrt werden, sondern nur gelebt werden.
Michel Baeriswyl, Zeitforscher
Wir haben zwar im Normalfall genügend Freizeit, doch viele verplanen und verprogrammieren auch diese, so dass wir in einem unaufhörlichen Aktivismus stecken, der uns im wahrsten Sinne des Wortes den Atem raubt. Verführt durch die vielfältigen Angebote der Konsumindustrie versuchen viele, ihre natürlicherweise beschränkte Lebenszeit zu verdichten, mit Erlebnissen voll zu packen. Doch vielfach fehlt es uns an wirklich freier Zeit, wo wir ohne Programm sind, wo wir vielleicht auch einfach mal nichts tun und einen offenen Raum vor uns haben. Doch mittels Mobiltelefon und E-Mail bleiben wir immer und sofort erreichbar, bleiben 'online'. Das Internet kennt keine Pausen. Portable Computer sorgen dafür, dass wir in ehemaligen Ruhephasen - wie zum Beispiel während einer Zugsfahrt - immer mit der Arbeit verbunden bleiben.
Vermehrt suchen Menschen deshalb individuell bewusst nach einem 'Ausklinken' für eine bestimmte Dauer aus diesem pausenlosen Alltagsfluss unserer Gesellschaft. Man möchte seine Zeitautonomie erlangen, sein Leben aus einer gewissen Distanz betrachten und einen Rhythmuswechsel in sein Leben bringen. Man will dem Getriebe entrinnen und sei es auch nur für kurze Zeit. Viele betäuben sich und bringen sich mittels Drogen in eine nicht mehr so rationale Welt, auch eine Form aus Ausstiegs. Andere suchen bewusst die Sicht nach Innen und meditieren.
Menschen, die sich in all der Anspannung und dem Stress verloren haben, fühlen sich nicht mehr mit sich selber verbunden. Es kann lange dauern, bis man sich wieder erholt hat... Zu sich gekommen, entsteht dann aber vielleicht ein offener Raum, und man kann zeitliches Brachland vor sich entdecken. Freie Zeit ohne aktives und unaufhörliches kontrollieren Wollen kann seine Schönheit und Qualität entfalten, ohne dass dahinter nur die Absicht steckt, seine Leistung nachher erst recht zu steigern, noch effizienter zu sein. Kontemplation und Musse ohne Zielgerichtetheit können ihren ganz eigenen Wert entwickeln.
Dieter Gränicher